Was ich nicht erschaffen kann vermag ich nicht zu verstehen

Tag 20 – Das beste Buch, das Du während der Schulzeit als Lektüre gelesen hast

Als Schullektüre hatten wir einige hochkarätige Bücher. Ich mochte „Der Richter und sein Henker“, die „Schachnovelle“, „Woyzeck“ und sogar die gesamte Riege der Shakespeare-Werke.

Ein Buch jedoch hat mich besonders beeinflußt: „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury. Es wur­de im Englisch-Leistungskurs behandelt; da der Unterricht sich jedoch auf Stil- und Sprach­mittel beschränkte (und generell wenig mitreißend war) dachte ich nicht im Traum daran, auch tatsächlich zur Lektüre zu schreiten. Stattdessen wurde blind, aber bunt, ge­text­mar­kert, wichtige Seiten durch Ratschläge aus höheren Klassen identifiziert und „Text­sicherheit“ anhand von Zusammenfassungen angelesen.

Das Schicksal entschied dann doch anders: in jener Woche etwas kränklich, wurde ich von der Klasse in der Schule zurückgelassen, während jene im Sportunterricht einen Waldlauf absolvierte. Geplagt von Langeweile und doch nicht mutig genug, den mir angewiesenen Platz zu verlassen um – damals die Freizeitbeschäftigung meiner Wahl – in der Buch­hand­lung Computerbücher und -zeitschriften zu wälzen, begann ich mit den ersten Seiten von „Fahren­heit“. Die Doppelstunde verging wie im Flug und als die Pause endete, war die Fru­stration über die vielen unbekannten Wörter auf den ersten Seiten vergessen und das Lese­fieber geweckt. Nach zwei weiteren Schulstunden – ich las damals öfters unter dem Tisch – hatte ich das Buch durch.

Fahrenheit 451

Auch wenn ich danach noch einige Male darüber sinnierte, was genau mich so in den Bann gezogen hatte, und ein paar der dichteren Textstellen nochmals durchging: es wäre wohl bei der einmaligen Beschäftigung geblieben. Am nächsten Tag jedoch, zum Stundenende des Deutschunterrichts, während ich bereits meine Sachen einräumte, landete ein Buch aus der Hand unseres Lehrers auf meinem Tisch. „Schöne neue Welt“ stand auf dem Schutz­um­schlag. Ich erinnerte mich dumpf, daß jener Lehrer mich am Vortag lesend auf dem Hof sit­zen sah und sich bei mir nach dem Titel des Buches erkundigte, und ob es mir gefalle. Ich hat­te halb geistesabwesend geantwortet und das Gespräch danach über die Lektüre sofort vergessen. „Noch eine politische Dystopie für Sie, Herr N.N.“, sagte der kleine Mann, der den immergleichen Strickpulli trug, „ich glaube Sie werden daran Gefallen finden.“

Ich fand daran Gefallen. Ein paar Tage später las ich „1984“, danach „Planet der Affen“. Ich dachte über die Gründe nach, warum die jeweils dargestellten Gesellschaften so existieren konnten, was daran so erschreckend realistisch war. Ich besorgte mir und las einen großen Stapel der Hefte der Bundeszentrale für politische Bildung, informierte mich über Freiheit, Propaganda, Menschenrechte und Unterdrückung. In alter Lektüre entdeckte ich Inhalte, die sich ebenfalls mit der Ent­wick­lung der Gesellschaft zum Konformismus kritisch beschäftig­ten. Ich war zum politisch denkenden Menschen geworden.

Auch Jahre nach dieser Erleuchtung geht von „Fahrenheit 451“ eine starke Faszination aus. Die erschreckende Nähe zur heutigen Realität, wenn beispielsweise die selbstgewählte Flucht der Menschen vor Unangenehmem hin zu stumpfer Unterhaltung durch wall-to-wall-Fern­sehschirme beschrieben wird, erschreckt, ebenso die Hilflosigkeit des Protagonisten, der aus diesem Nebel erwacht und feststellen muß, daß er nicht in der Lage ist, seine Frau ebenso daraus zu befreien.

Eine nette Ironie* zum Schluß: hier findet sich ein Trailer zu der m. E. sehr sehens­werten Verfilmung von 1966.

* Dies ist daher beachtenswert, da der Autor Ray Bradbury überhaupt keine gute Meinung zu dem damals neuen Medium Fernsehen hatte; er schrieb sogar einen Roman, der sich klar gegen den weiteren Vormarsch der Tele­unterhaltung positionierte. Dieser Roman hieß… Fahrenheit 451.




Sie mochten Woyzeck, ich bin entsetzt! Ich selbst hab früher Bücher verschlungen, aber gerade mit diesem Buch konnte ich nichts anfangen.
Dass Sie ein Streber zu sein scheinen, macht Sie aber gleich sympathischer! Auch wenn dieses Mal diverse Tippfehler in Ihrem Text sind, die so gar nicht zu Ihnen passen wollen.
Grüße von einer, die ihren Deutschleistungskurs geliebt hat.
BriannaF

Ich fürchte, werte Brianna, ich muß Sie bitter enttäuschen. Ein Streber war ich nicht – kaum etwas, das mir so wenig bedeutete wie Noten. Fleiß und Disziplin gingen mir, so sie nicht von Interesse an der Sache gespeist wurden, völlig ab. Ein oder zwei Lehrer verstanden es allerdings, mich so bei der Ehre zu packen, daß ich auch Dinge lernte, die nicht direkt Spaß machten.

Damit ist die Enttäuschung aber noch nicht vorbei, halten Sie sich fest: ich hatte garkeinen Deutschleistungskurs. Ich vertiefte aus Interesse in Physik, Mathe und Englisch. Informatik konnte man damals noch nicht vertiefen. Alle anderen Fächer, besonders das mit der oben erwähnten Faulheit garnicht kompatible Latein, flogen zum frühestmöglichen Zeitpunkt raus. Schöne Künste sowieso („Zeitverschwendung“, Energist 10. Klasse).

Ich hoffe ich habe Sie nun nicht gänzlich vergrault. Als Ausgleich zu dem Schock verrate ich Ihnen aber auch, warum ich den Woyzeck gut leiden mochte: wir hatten einen wunderbaren Lehrer, der wußte, wie der Hase läuft. Statt uns abschnittsweise das Stück lesen zu lassen, schleifte er uns ins Theater, zeigte uns den Kinski-Film, teilte sogar Zusammenfassungen aus, Rezensionen: vermied kurz jeden Zwang zur Lektüre hin. Einige nutzten das selbstverständlich aus, bei anderen funktionierte die umgekehrte Psychologie – auch bei mir, ich las das Buch freiwillig und, Kinski als „gehetzte Kreatur“ vor Augen, mochte es.

P.S.: Danke für Ihren dezenten Hinweis auf die beiden Tippfehler – es wurde doch später als ich dachte. Auch die Silbentrennung habe ich noch ein bisschen aufpoliert, ich hoffe so Ihren Ansprüchen besser genügen zu können ;)

Nein, keine Sorge, Sie haben mich nicht vergrault.
Faszinierend, was Sie schreiben. Dass man Sie bei der Ehre packen kann. Und dass Ihnen Noten nichts bedeutet haben. Was hat Ihnen denn etwas bedeutet? Das Pausenbrot? Die Mädchen? Die Freunde?

Na aber sicher – bei der Ehre packen klappt (fast) immer. Und bedeutet… in der Zeit eher nichts. Dazu waren der Geist und die Interessen zu unstetigbeweglich.

"Herr der Fliegen" war das einzige Buch, das ich, aufgenötigt von Lehrern, freiwillig zu Ende las. Für den sonstigen Unterrichtsstoff - egal ob Goethe, Miller oder Sartre - besaß die örtliche Bücherei eine großzügige Sammlung an Sekundärliteratur, die ich umfassend konsultierte. Aus heutiger Sicht eine fast unmenschliche Rechercheleistung, so ohne Internet.

„Herr der Fliegen“ hatte ich schon früher, bevor es in der Schule drankam, aus dem Regal meines Vaters stibitzt und verschlungen. Die Besprechung in der Schule war so grauenhaft demotivierend, daß ich es freiwillig sicherlich nicht gelesen hätte.

Willkommen übrigens, liebe Nessy, hier im Blog. Darf ich Ihnen Kekse zum Kaffee reichen?

Dankeschön, sehr gerne.