Was ich nicht erschaffen kann vermag ich nicht zu verstehen

Tag 9 – Das erste Buch, das Du je gelesen hast

Bei uns daheim gab es eine Menge lustige und einige eher seltsame Kinderbücher. Aber allen zusammen haftete der Makel an, daß sie ganz klar erkennbar keine „echten Bücher“ waren. Echte Bücher waren das, was die Erwachsenen hatten, kleineres Format als die großen Kinder­bücher, keine Bilder und eine ernste, nicht simplifizierte Sprache.

Eines Tages, kurz vor Beginn der Weihnachtsferien in der ersten Klasse, beschloß ich daher jetzt auch zu den Erwachsenen zu gehören (das beschloß ich zu der Zeit häufiger). Zur Um­setzung des Beschlusses setzte ich mich auf die Fensterbank unseres Wohnzimmers – wegen der Heizung, auf der man seine Füße abstellen konnte und wegen des schönen Aus­blicks auf das Allgäu mein Lieblingsplatz – und las. Während der ersten Seite ließ die Be­geisterung über den neuen Status allerdings langsam nach und wich Ärger: das Buch verhielt sich garnicht so kooperativ wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich verstand kaum ein Wort, selbst wenn ich die Buchstaben laut aussprach und aneinanderreihte. Dabei kam ich mir reichlich blöd vor, schließ­lich machten die Erwachsenen das auch nicht.

Blick von Ulm auf die Alpen

Etwas frustriert saß ich da nun – Aufzugeben kam natürlich nicht in Frage, aber Spaß mach­te das so auch keinen. Auf die Rettung stieß ich beim Durchblättern des Buches, das mich so ärgerte: Bilder! Da waren Abbildungen, sogar Tabellen und Fotos von irgendwelchen komi­schen Dingen. Es handelte sich also garnich um ein Buch für Erwachsene – damit war es kein Makel, wenn ich es nicht lesen konnte! Erleichtert legte ich den Band zurück auf den Stapel medizinischer Fachliteratur meines Vaters.

Am nächsten Tag setzte ich den Beschluß um, diesmal mit einem richtigen Erwachsenen­buch, ohne Bilder (nur eines auf dem Einband), mit vielen Seiten und – das war das beste – es kamen Indianer vor! Auch hier war das Lesen anfänglich etwas stockend, als die Schule jedoch wieder losging hatte ich das Buch durch. Und das danach. Und steckte mitten in einem weiteren. Ich war ganz klar schon völlig erwachsen.
Im Original vom 21. Oktober 2010. Bild von Pablo d’Angelo, lizensiert unter CC-BY-NC.




netter zufall, meines war "winnetou". ich muß das mal suchen, ich glaube, das schaut Ihrem ähnlich. ich kann mich aber auch täuschen, ist ja schon ewig her!

Aber sicher sah Ihr Winnetou genauso aus, werte Seemuse. Diese textilgebundenen kleinen Bände werden – auch wenn man den Inhalt eines Buches ja nicht an die Form binden soll – für mich immer die einzig legitimen Karl-May-Ausgaben sein.

Haben Sie danach auch alle anderen (hinten sauber aufgeführten) Bücher von Karl May gelesen oder war der Winnetou für Sie nur eines unter vielen?

old surehand I + II habe ich noch gelesen, die aber dann schon mit viel weniger begeisterung. textilgebunden war nur winnetou, mein bruder hatte zwar alle anderen teile auch, die waren aber - wohl wegen der knappen haushaltskasse meines elternhauses - nurmehr taschenbücher. ich selber habe mich dann in der schulbibliothek auf auguste lechner gestürzt. und dann war parzival mein held..

Wir hatten auch nur wenige Bänder selbst – zu meiner großen Freude hatte die Dependace der Stadtbibliothek sie aber alle.

Parzival? Welcher? Also woher? Eine meiner nächsten Lektüren nach Karl May waren die Sagen des klassischen Altertums, meine Helden waren also Achill und Odysseus.

Wir hatten solche bunten - und solche in beigem Leinen, und bei weitem nicht alle. Mich interessierten aber eh nur die Indianerbücher, daher war das nicht weiter schlimm. Die Enttäuschung allerdings, Jahre später, als sich herausstellte, daß das alles erfunden war... das war schlimm.

patzival von auguste lechner. sie hat Sagen für jugendliche umgeschrieben (auch odysseus:) und ich habe alle in der schulbibliothek verschlungen.

http://de.wikipedia.org/wiki/Auguste_Lechner

Seemuse, die habe ich auch alle gelesen, hach! Gustav Schwab war mir zu altertümlich.

Aber das Altertümliche von Schwab gehört doch zu Sagen irgendwie dazu? Aber ich glaube, sie wollen auf etwas anderes heraus – die klassischen Sagen sind distanziert, rein deskriptiv. Die Gefühle der Handelnden kommen nicht vor.

Ich frage mich gerade, warum mich das nie gestört hat, warum ich es nicht einmal bemerkt habe. Möglicherweise ist meine Phantasie so gut, daß sie das fehlende sofort ersetzt hat :-)

Um ehrlich zu sein - ich erinnere mich nicht mehr so genau, das ist so lange her. Der Gipfel der Altertümlichkeit war allerdings "... und die Zornesflamme stach ihm ins Hirn", ich glaube, in Steubens "Der weite Ritt". Werde ich nie vergessen diesen Satz, bei aller Dramatik, damals wie heute kann ich nur lachen.

„… stach ihm in's Hirn.“ Aha. Das erinnert fatal an ihn hier.