Was ich nicht erschaffen kann vermag ich nicht zu verstehen
Montag, 17. Oktober 2011

Tag 9 – Das erste Buch, das Du je gelesen hast

Bei uns daheim gab es eine Menge lustige und einige eher seltsame Kinderbücher. Aber allen zusammen haftete der Makel an, daß sie ganz klar erkennbar keine „echten Bücher“ waren. Echte Bücher waren das, was die Erwachsenen hatten, kleineres Format als die großen Kinder­bücher, keine Bilder und eine ernste, nicht simplifizierte Sprache.

Eines Tages, kurz vor Beginn der Weihnachtsferien in der ersten Klasse, beschloß ich daher jetzt auch zu den Erwachsenen zu gehören (das beschloß ich zu der Zeit häufiger). Zur Um­setzung des Beschlusses setzte ich mich auf die Fensterbank unseres Wohnzimmers – wegen der Heizung, auf der man seine Füße abstellen konnte und wegen des schönen Aus­blicks auf das Allgäu mein Lieblingsplatz – und las. Während der ersten Seite ließ die Be­geisterung über den neuen Status allerdings langsam nach und wich Ärger: das Buch verhielt sich garnicht so kooperativ wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich verstand kaum ein Wort, selbst wenn ich die Buchstaben laut aussprach und aneinanderreihte. Dabei kam ich mir reichlich blöd vor, schließ­lich machten die Erwachsenen das auch nicht.

Blick von Ulm auf die Alpen

Etwas frustriert saß ich da nun – Aufzugeben kam natürlich nicht in Frage, aber Spaß mach­te das so auch keinen. Auf die Rettung stieß ich beim Durchblättern des Buches, das mich so ärgerte: Bilder! Da waren Abbildungen, sogar Tabellen und Fotos von irgendwelchen komi­schen Dingen. Es handelte sich also garnich um ein Buch für Erwachsene – damit war es kein Makel, wenn ich es nicht lesen konnte! Erleichtert legte ich den Band zurück auf den Stapel medizinischer Fachliteratur meines Vaters.

Am nächsten Tag setzte ich den Beschluß um, diesmal mit einem richtigen Erwachsenen­buch, ohne Bilder (nur eines auf dem Einband), mit vielen Seiten und – das war das beste – es kamen Indianer vor! Auch hier war das Lesen anfänglich etwas stockend, als die Schule jedoch wieder losging hatte ich das Buch durch. Und das danach. Und steckte mitten in einem weiteren. Ich war ganz klar schon völlig erwachsen.
Im Original vom 21. Oktober 2010. Bild von Pablo d’Angelo, lizensiert unter CC-BY-NC.



Freitag, 19. August 2011

Tag 24 – Ein Buch, von dem niemand gedacht hätte, daß Du es liest/gelesen hast

Aus reiner Langeweile nahm ich in noch recht jungen Jahren einmal die Bibel zur Hand und las. Langatmige Schilderungen geschichtlicher Vorgänge schreck­ten mich ebensowenig wie unerklärliche Wendungen des Plots oder göttliche Ein­griffe, immerhin hatte ich direkt vorher den Schwab verschlungen und mich auch an den Metamorphosen versucht. Vom Alten Tes­tament noch ansatzweise angetan verließ mich jedoch bei der dritten Wiederholung des Evan­geliums der Durchhaltewille und ich über­sprang alles Nachfolgende bis direkt zur Offen­barung, die zumindest wieder etwas frischen Wind (Apokalypse! Hure Babylon! Kampf Gut gegen Böse!) brachte.

Insgesamt war ich vom meistgelesenen Buch der Welt eher enttäuscht – zu wirr und ziellos die Handlung, zu lasch geschrieben. Dem Genre der Fantasyliteratur blieb ich dennoch treu, meine nächste Lektüre von J. R. R. Tolkien leistete sich diese Anfängerfehler nämlich nicht.


Im Jahr 2002 trat ich meinen Wehrdienst an. Die Anschläge von 9/11 lagen noch nicht weit zurück, die U. S. A. hatten eben Afghanistan eingenommen und hierzulande begann die seit­her nicht mehr verstummte Diskussion, ob der Islam eine Lehre der Gewalt ist oder dies nur von ein­zelnen Verrückten so propagiert wird, die die Religion gerne für ihre Zwecke miß­brauchen wol­len. In dieser Diskussion werden stets einer lange eingespielten Routine gleich Suren und Verse aus dem Koran zitiert und so belegt, daß jeder Muslim wahlweise ein poten­tieller Massenmörder oder die neue Mutter Teresa ist. Um für mich Licht in das Dunkel zu bringen (und weil man während diverser Wach- und UvD-Dienste recht wenig zu tun hat) besorgte ich mir eine Aus­gabe des Koran und las.

Umschlag eines Korans

Nach anfänglichen Schwierigkeiten findet man sich recht schnell in den fremdartig er­schei­nenden Schreibstil der Koranübersetzung hinein und kann den Inhalt flüssig lesen. Was man dort allerdings liest erscheint ebenso fremd: genau wie das Alte Testament (und vermutlich ebenso wie die Thora) gibt dieses Buch Zeugnis von jahrtausendalten Wert- und Moralvor­stellungen, die für jeden aufgeklärten Menschen der Moderne derart abstrakt erscheinen, daß man sie nur wahrnehmen, nicht aber verstehen kann.

Nach dieser ersten Lektüre habe ich den Koran nie wieder angerührt. Mein Interesse war völlig befriedigt und mich weiter mit den Inhalten auseinanderzusetzen – dafür konnte ich sie zu wenig ernst nehmen. Als Zeugen ihrer Zeit sind all diese Suren sicher­lich interessant, als Anklagepunkte oder Belege für latente Gewaltbereitschaft aller Muslime taugen sie nicht. Der Mensch kann an jeden beliebigen Blödsinn glauben, sich vorhandener Götzen bedienen oder neue erschaffen. Die Gedanken sind frei. Wenn jedoch die Entscheidung fällt, seine Überzeugungen mit Gewalt durchzusetzen, dann ist dafür ebenjener Mensch verantwortlich, nicht Glaube, eine übergeordnete Macht oder ein Buch.

Bild: Einband eines Koran, lizenziert unter CC, Quelle: Flickr.



Samstag, 23. April 2011

Tag 20 – Das beste Buch, das Du während der Schulzeit als Lektüre gelesen hast

Als Schullektüre hatten wir einige hochkarätige Bücher. Ich mochte „Der Richter und sein Henker“, die „Schachnovelle“, „Woyzeck“ und sogar die gesamte Riege der Shakespeare-Werke.

Ein Buch jedoch hat mich besonders beeinflußt: „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury. Es wur­de im Englisch-Leistungskurs behandelt; da der Unterricht sich jedoch auf Stil- und Sprach­mittel beschränkte (und generell wenig mitreißend war) dachte ich nicht im Traum daran, auch tatsächlich zur Lektüre zu schreiten. Stattdessen wurde blind, aber bunt, ge­text­mar­kert, wichtige Seiten durch Ratschläge aus höheren Klassen identifiziert und „Text­sicherheit“ anhand von Zusammenfassungen angelesen.

Das Schicksal entschied dann doch anders: in jener Woche etwas kränklich, wurde ich von der Klasse in der Schule zurückgelassen, während jene im Sportunterricht einen Waldlauf absolvierte. Geplagt von Langeweile und doch nicht mutig genug, den mir angewiesenen Platz zu verlassen um – damals die Freizeitbeschäftigung meiner Wahl – in der Buch­hand­lung Computerbücher und -zeitschriften zu wälzen, begann ich mit den ersten Seiten von „Fahren­heit“. Die Doppelstunde verging wie im Flug und als die Pause endete, war die Fru­stration über die vielen unbekannten Wörter auf den ersten Seiten vergessen und das Lese­fieber geweckt. Nach zwei weiteren Schulstunden – ich las damals öfters unter dem Tisch – hatte ich das Buch durch.

Fahrenheit 451

Auch wenn ich danach noch einige Male darüber sinnierte, was genau mich so in den Bann gezogen hatte, und ein paar der dichteren Textstellen nochmals durchging: es wäre wohl bei der einmaligen Beschäftigung geblieben. Am nächsten Tag jedoch, zum Stundenende des Deutschunterrichts, während ich bereits meine Sachen einräumte, landete ein Buch aus der Hand unseres Lehrers auf meinem Tisch. „Schöne neue Welt“ stand auf dem Schutz­um­schlag. Ich erinnerte mich dumpf, daß jener Lehrer mich am Vortag lesend auf dem Hof sit­zen sah und sich bei mir nach dem Titel des Buches erkundigte, und ob es mir gefalle. Ich hat­te halb geistesabwesend geantwortet und das Gespräch danach über die Lektüre sofort vergessen. „Noch eine politische Dystopie für Sie, Herr N.N.“, sagte der kleine Mann, der den immergleichen Strickpulli trug, „ich glaube Sie werden daran Gefallen finden.“

Ich fand daran Gefallen. Ein paar Tage später las ich „1984“, danach „Planet der Affen“. Ich dachte über die Gründe nach, warum die jeweils dargestellten Gesellschaften so existieren konnten, was daran so erschreckend realistisch war. Ich besorgte mir und las einen großen Stapel der Hefte der Bundeszentrale für politische Bildung, informierte mich über Freiheit, Propaganda, Menschenrechte und Unterdrückung. In alter Lektüre entdeckte ich Inhalte, die sich ebenfalls mit der Ent­wick­lung der Gesellschaft zum Konformismus kritisch beschäftig­ten. Ich war zum politisch denkenden Menschen geworden.

Auch Jahre nach dieser Erleuchtung geht von „Fahrenheit 451“ eine starke Faszination aus. Die erschreckende Nähe zur heutigen Realität, wenn beispielsweise die selbstgewählte Flucht der Menschen vor Unangenehmem hin zu stumpfer Unterhaltung durch wall-to-wall-Fern­sehschirme beschrieben wird, erschreckt, ebenso die Hilflosigkeit des Protagonisten, der aus diesem Nebel erwacht und feststellen muß, daß er nicht in der Lage ist, seine Frau ebenso daraus zu befreien.

Eine nette Ironie* zum Schluß: hier findet sich ein Trailer zu der m. E. sehr sehens­werten Verfilmung von 1966.

* Dies ist daher beachtenswert, da der Autor Ray Bradbury überhaupt keine gute Meinung zu dem damals neuen Medium Fernsehen hatte; er schrieb sogar einen Roman, der sich klar gegen den weiteren Vormarsch der Tele­unterhaltung positionierte. Dieser Roman hieß… Fahrenheit 451.



Montag, 4. April 2011

Tag 4 – Dein Haßbuch

Ich habe es mir schon seit einiger Zeit abgewöhnt, zu hassen. Viele Dinge stören mich, man­ches mag ich nicht und auf dieser Welt wandeln neben lieben Menschen auch genügend Zeit­genossen, mit denen ich gerne weniger zu tun hätte. Aber Haß? Die Kapitulation von Ratio, Kul­tur, Moral vor negativer Emotionen, das muß man ja nicht auch noch kultivieren. Also aber­mals eine Umdeutung: aus den negativen Emotionen suche ich mir eine andere, ver­trau­tere heraus. Enttäuschung.

Kein Buch hat mich in den vergangenen Jahren mehr enttäuscht als die Erzählung „Der Lu­xus­liner“ von Lothar-Günther Buchheim. Der Kauf auf einem Bücherflohmarkt und die ersten Seiten Lektüre waren noch von großer Euphorie begleitet, immerhin schätze ich frühere Wer­ke dieses Autors sehr. „Die Festung“, das Monumentalwerk in dem Buchheim seine Flucht aus Brest durch die Wirren, die den Untergang Nazideutschlands begleiteten, beschreibt, las ich beinahe in einem Rutsch, trotz des Umfangs von 1500 Seiten. Viele empfinden die Schrei­be Buchheims als techniküberladen und – gelinde gesagt – stinklangweilig. Für mich hingegen tritt wieder etwas in Kraft, was ich schon ähnlich zu Hemingway schrieb: diese Art zu Be­ob­achten und zu Denken ist mit meiner „kompatibel“. Die Erzählungen (Buchheim schreibt in Ich-Form) daher umso greifbarer und realistischer.

Buchheim: Der Luxusliner

Zum Buch selbst gibt es nicht viel zu sagen. Es beschreibt eine Reise mit der QE2, dem Kreuz­fahrt­schiff „Queen Elisabeth 2“ von Southampton nach New York. Aber all das, was in den al­ten Büchern auf phantastische Art funktionierte – eine immer wieder von Rückblicken des An­tagonisten durchbrochene Handlung und lange Phasen, in denen nichts passiert und die Gedanken deshalb abzuschweifen beginnen – mißlingt hier massiv. Wehmütige Erinnerungen an alte Erlebnisse und Abenteuer, Hommagen an die „echte“ Seefahrt, die Werkzeuge, die Buchheim im „Boot“ und der „Festung“ wunderbar akzentuiert einsetzte, sie machen jetzt ge­fühlte 80% des Buchinhaltes aus. Die detailverliebte Schilderung von Nebensächlichkeiten, die bisher die Buchrealität geradezu greifbar machte, ist jetzt ohne Stütze, denn ausgleichende Handlung findet nicht statt.

„Der Luxusliner“ ist eines der wenigen Bücher, die ich nicht beendet habe.
Im Original vom 5. Oktober 2010



Samstag, 26. März 2011

Tag 6 – Ein Buch, das Du nur einmal lesen kannst (egal, ob Du es hasst oder nicht)

Als Dankeschön für mein intensives Korrekturlesen seiner Diplomarbeit schenkte mir ein Be­kannter aus tiefer Überzeugung heraus „Winning“ von Jack Welch. Der Ratgeber, ge­schrie­ben vom langjährigen CEO von General Electrics und seiner lovely wife, richtet sich wohl an jene, die gerne gewinnen. Oder gerne gewännen.

Winning

Jedenfalls schlägt dem Leser eine unüberschaubare Wolke an business buzzwords und Bin­sen­weisheite entgegen („Leaders make shure people not only see the vision, they live and breathe it.“) entgegen, die durch die Einbettung in „Jack’s distinctive no b.s. voice“ nicht wirklich besser ertragbar wird. Nach den ersten Seiten beschloß ich, das Buch dennoch zu Ende zu lesen und als Charakterstudie zu verstehen. Ich hielt durch, hatte dann aber end­gültig genug davon. Dummerweise ist es auch schwer, das Ding unauffällig loszuwerden: wem soll man es guten Gewissens weiterverschenken?
Im Original vom 9. Oktober 2010



Samstag, 19. März 2011

Tag 12 – Ein Buch, das Du von Freunden/Bekannten/… empfohlen bekommen hast

Einige Empfehlungen der letzten Zeit waren:
  • „Der Meteor“ von Dürrenmatt: wurde mir von einer Freundin spontan geliehen, als sie die „Physiker“ im Regal erblickte. Gefiel. Und steht nun auch dauerhaft in meinem Regal.
  • „Die Keltennadel“ von Patrick Dunne: Krimi. Angenehm zu lesen, Spannungskurve vor­handen, aber Handlung doch eher flach. Seltsames Ende.
  • „The human stain“ von Philip Roth: ist noch auf der „zu-Lesen“-Liste.
  • Von meine Großmutter unlängst erhalten: Das „Kant-Brevier“ faßt auf knapp 350 Seiten die wichtigsten Schriften, Aufsätze und Briefe in so praktischen Kapiteln wie „An­schauung und Denken“ oder „Gesetz und Freiheit“ zusammen.
Kant-Brevier



Tag 5 – Ein Buch, das Du immer und immer wieder lesen könntest

Bücher, die ihren Reiz nicht nach einmaligem Durchlesen verlieren, gibt es ebensoviele wie Gründe dafür. Besonders interessant scheint mir in dem Zusammenhang, daß sich oft der Beobachtungswinkel auf ein Buch, das was man darin erkennt, mit der Zeit verschiebt.

Als Beispiel dafür möchte ich den Zukunftsroman „Auf zwei Planeten“ von Kurd Laßwitz vorstellen. Das 1897 erschienene Werk beschreibt den ersten Kontakt der Menschheit mit den ihnen technisch weit überlegenen Marsbewohnern – den Nume – der anfänglich sehr fried­lich und verständigungsbereit verläuft. Als jedoch ein Raumschiff der Marsbewohner auf­grund eines Mißverständnisses beschossen wird, kippt die Stimmung und nachdem aus verletztem Stolz keine Seite von ihrer Position abrücken mag kommt es zum Bruch zwischen den Völ­kern. Bestärkt durch ihre technologische Überlegenheit besetzen die Nume die Erde. Bald jedoch regt sich der Widerstand auf beiden Seiten und letzlich gelingt es, die beiden Völker zu einer friedlichen Koexistenz zu führen.

Kurd Lasswitz: Auf zwei Planeten

Laßwitz beleuchtet dabei viele Seiten, bezieht viele soziale und zwischenmenschliche Fak­toren ebenso in seine Überlegungen ein wie technische Fragen (er erwähnt zum Beispiel korrekte Berechnungen und Flugbahnen der Raumreise zwischen den Planeten ebenso wie die Vision der Energieerzeugung aus Sonnenstrahlen). Die Sprache ist dabei kontemporär, ohne in den in späteren Zukunftsromanen (z.B. von Dominik oder Campbell) üblichen allzu technophilen Bereich abzudriften.

In ganz jungen Jahren, als ich jedes Buch, das mir in die Hände kam, verschlang, war für mich „Auf zwei Planeten“ einfach eine aufregende Geschichte, bei der ich zwar einiges nicht verstand, die aber die nötige Handlung sowie Spannung aufwies. Später, als meine Be­gei­ste­rung für Technik erwachte, las ich das Buch unter besonderem Fokus auf die visionären und realistischen Beschreibungen der Errungenschaften der Marsmenschen. Letzlich las ich das Buch als sozialkritischen Roman, der Mißstände in der Gesellschaft ebenso wie „inter­kul­tu­relle“ Zusammenstöße vorwegnimmt und beschreibt. Heute kann ich mich über alle diese Facetten erfreuen und haben eben beim Schreiben dieses Beitrages tatsächlich schon wieder eine halbe Stunde durch das Buch geblättert.
Im Original vom 9. Oktober 2010