Was ich nicht erschaffen kann vermag ich nicht zu verstehen
Manchmal frage ich mich, wie Richter ihren Job aushalten.

Natürlich, der Beruf weist eine Reihe Vorteile auf: man wird geachtet, ist sehr unabhängig, hat in der Regel bewiesen, daß man zu den besten Juristen des Landes zählt. Häufig wird es so sein, daß man durch weise und gerechte Urteile Streitfälle beilegen, Übeltäter zur Rechen­schaft ziehen und … ja, Gerechtigkeit wirken kann.

Aber dann sind da diese Fälle, in denen das anders ist. In denen die Buchstaben des Gesetzes orthogonal sind zu dem, was man unter Gerechtigkeit versteht. Die Fälle, in denen man als Richter nicht anders kann als ein „Recht“ zu sprechen, von dem man genau weiß, daß es schrei­endes Unrecht ist.

Iustitia

Wie fühlt es sich an, zu sagen „Es liegt auf der Hand, welche Partei Recht hat. Dennoch ist das Gericht an geltende Gesetze und Vorschriften gebunden. Es ergeht daher – selbstredend in nichts geringerem als dem Namen des Volkes – das Urteil, daß die Beweise ignoriert, Fak­ten verdreht und Formalia hochgehalten werden; Recht bekommt der Bösewicht.“?

Nach den ersten drei Malen, die ich diesen Text sprechen müßte, läge vermutlich meine Kün­di­gung auf dem Tisch.

Das Bild zeigt die blinde Iustitia an der Mauer der Villa Hartmann in Halle/Saale. Photographie (cc) von Ralf Lotys.




Mein Vater pflegte zu dieser Problematik immer zu sagen, dass ein eigenes Urteil auch in komplexer Angelegenheit erst dann zu überzeugen vermöge, wenn seine alte, in intellektuellen Dingen unbedarfte Frau Mama seinen Tenor verstehen und nachvollziehen könne. Dies zu bewerkstelligen auch vielleicht einmal gegen die technokratische Buchstaben-Vorschrift ist die Kunst des Richtens. Spielraum dazu bleibt zumeist durchaus.

Daß man diese Sicht als Grundüberzeugung innehat ist natürlich ebenso achtungswert wie gut. Aber hat er denn tatsächlich diesem Anspruch immer genügen können? Haben nie der schlichte Zwang der Gesetzeslage von ihm verlangt, Urteile gegen diesen gesunden Menschenverstand zu treffen?

Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht grundsätzlich. Überzeugte Schreibtischtäter sehen auch in aller Regel keinen Widerspruch zwischen Wollen und Müssen, sondern wollen eben so wie sie müssen. Sie machen sich zueigen als moralischen Maßstab den Buchstabensinn der Vorschrift. Das ist im Kantschen Sinne (und in dem des Ethikforschers Lawrence Kohlbergs) nicht die letzt-höchste Stufe der moralischen Urteilsfähigkeit aber immerhin, ein akzeptables Niveau. Zugute kommt ihnen dabei sicherlich auch, dass der gesunde Menschenverstand oft genug gar nicht so gesund ist, sondern inkonsistent, indifferent und opportunistisch- zumindest auf den zweiten Blick, den gute Juristen immer wagen.